Konkret 09/98, S. 40
gruppe demontage
Le FIS est le
Fils du FLN
In
den 60er und 70er Jahren galt der »islamische Sozialismus« der algerischen
Befreiungsbewegung FLN der internationalistischen Linken als Musterbeispiel für
die Entwicklung von Trikont-Ländern. Heute zeigt sich, daß das ein Fehler war
Wenige
Tage vor dem Inkrafttreten des »Gesetzes zur allgemeinen Anwendung der
arabischen Sprache« Anfang Juli dieses Jahres, das Arabisch zur alleinigen
Amtssprache in Algerien erklärt, wurde der populäre Sänger Matoub Lounes
ermordet. Lounes hatte sich nicht nur für die Rechte der als Berber
bezeichneten Bewohner der Kabylei eingesetzt, die fast ein Drittel der
algerischen Bevölkerung ausmachen und die bis heute systematisch aus der
algerischen Gesellschaft ausgegrenzt werden. Er war auch ein erklärter Feind
des Islamismus. Zum Mord an Lounes soll sich zwar ein Kommando der GIA (Groupes
Islamiques Armés / Bewaffnete Islamische Gruppen) bekannt haben. Dennoch
schließt man in Algerien nicht aus, daß der Geheimdienst für den Anschlag auf
den Regimekritiker verantwortlich ist. Zu offensichtlich paktiert gegenwärtig
die Regierung mit den Islamisten; beide bekämpfen jegliche demokratische
Opposition. Dieses Bündnis zwischen der algerischen Regierung und den islamischen
Kräften ist nicht neu. Es ist einerseits eine Folge der spezifischen Form der
französischen Kolonialpolitik in Algerien, andererseits aber vor allem das
Ergebnis der Politik der algerischen Befreiungsbewegung FLN (Front de
Libération Nationale) seit Beginn des Unabhängigkeitskampfes.
Die
französische Kolonialisierung in Algerien verlief anders als etwa in den
nordafrikanischen Protektoraten Marokko und Tunesien. Dort blieben die
vorkolonialen Verwaltungsstrukturen zu einem Großteil erhalten. Algerien
dagegen war eine Siedlungskolonie mit direkter Verwaltung durch Frankreich. Das
Land wurde als »integraler Bestandteil des Mutterlandes« angesehen und in Form
dreier Départements dem französischen Staat einverleibt. Dies führte zu einer
tiefgreifenden Spaltung der algerischen Gesell-schaft. Während die
französischen Siedler in Algerien vollwertige Bürger Frankreichs blieben, hatte
der größte Teil der kolonialisierten Einwohner einen minderwertigen
Rechtsstatus. Erst ab Mitte der 40er Jahre erhielten Teile der »modemisierten«
arabisch-muslimischen Eliten die französische Staatsbürgerschaft.
Fordistisches
Entwicklungsmodell
Der
französische Siedlungskolonialismus hinterließ eine umfassende Infrastruktur
-Straßen, Eisenbahnnetz und Häfen. Nach der Unabhängigkeit 1962 baute das
Entwicklungskonzept der Befreiungsregierung auf diese Infrastruktur auf und
forcierte einen Industrialisierungsprozeß, der über die Förderung und den
Export von Erdöl und Erdgas sowie deren Raffinate finanziert wurde. Mehr als 90
Prozent der Exporte wurden von den staatlichen Erdölgesellschaften bestritten.
Den technologischen Vorsprung Europas hielt man für die Ursache der kolonialen
Abhängigkeit. Eine hochmoderne Industrialisierung erschien dem FLN als einziger
Weg, diese Abhängigkeit zu durchbrechen. Für deren Finanzierung wurden
Einschränkungen im Konsumbereich und der Verzicht auf Sozialleistungen
durchgesetzt. Algerische Studenten gingen zur Ausbildung an technische
Hochschulen im Ausland. Gleichzeitig wurde dort eine hochbezahlte technische
Elite angeworben.
Zentraler
Bestandteil des ökonomischen Entwicklungsmodells war der Aufbau einer
Schwerindustrie, die in 19 Staatskonzernen zentralisiert wurde. Es entstanden
riesige Eisen- und Petrochemiefabriken. Die Großanlagen wurden in den meisten
Fällen schlüsselfertig von westlichen, meist französischen Firmen geliefert.
Damit war Algerien allerdings für Jahrzehnte von westeuropäischen Experten und
Ersatzteilen abhängig. Die unmittelbare koloniale Verwaltung war einer
neokolonialen technologischen Abhängigkeit gewichen.
Über
den Aufbau der Schwerindustrie sollten auch die Voraussetzungen für eine
Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft geschaffen werden. Dafür wurden
Traktoren und Düngemittel produziert. Parallel dazu versuchten Teile der
Regierung, eine Agrarreform voranzutreiben. An diesem Vorhaben brachen jedoch
massive Widersprüche im Staatsapparat auf. Einige Parteimitglieder des FLN
halfen Großgrundbesitzern, ihre Besitzungen vor der Verstaatlichung zu
bewahren.
Mit dem
Ziel einer Importsubstitutionspolitik verstaatlichte man auch den Außenhandel.
Über die binnenmarktbezogene Industrialisierung sollte eine autozentrierte
Entwicklung gewährleistet werden. Wie bei der Agrarreform traten auch in der
Frage der Verstaatlichung des Außenhandels Widersprüche innerhalb der Partei
auf Je offensichtlicher die ökonomischen Krisenerscheinungen wurden, desto
stärker polarisierten sich die Vorstellungen über die Entwicklung der
algerischen Gesellschaft. Befürworter eines liberalen Entwicklungsmodells
machten die sozialistische Politik und insbesondere die Verstaatlichung des
Außenhandels für die ökonomische Misere verantwortlich. Umgekehrt warfen die
Anhänger der Verstaatlichung den Liberalen vor, sie wollten Algerien an
ausländische Firmen verscherbeln und die Agrarreform torpedieren.
Islamischer
Sozialismus
Das
fordistische Akkumulationsmodell in Algerien wurde von Anfang an auf eine Weise
reguliert, deren fester Bestandteil der Islamismus war. Im Konzept des
»islamischen Sozialismus« des FLN waren die gegenwärtigen gesellschaftlichen
Probleme bereits angelegt. Nach seiner Gründung im Jahr 1954 hatte der FLN die
bestehenden Parteien aufgefordert, sich aufzulösen und insbesondere ihre
militanten Kämpfer dem Unabhängigkeitskampf zur Verfügung zu stellen. Daraufhin
lösten sich die wichtigsten Parteien in den FLN auf. Während die Kommunistische
Partei Algeriens (KPA) und die populärste nationalistische Partei PPA-MTLD
relativ geringen Einfluß innerhalb des FLN erlangten, nahmen die Mitglieder der
UDMA (Partei der liberalen Bourgeoisie) und insbesondere die Ulemas (religiöse
Gelehrte) innerhalb der politischen Führung binnen kurzer Zeit zentrale
Positionen ein. Ihr Einfluß vergrößerte sich vor allem deshalb so schnell, weil
die Vorstellungen von einer islamischen »algerischen Identität« schon seit
längerer Zeit von der PPA-MTLD popularisiert worden waren.
Der
Glaube an eine »nationale Identität« war eng verknüpft mit der Propagierung
einer einheitlichen algerischen Sprache. Eine Förderung der gesprochenen
Populärsprachen algerisches Arabisch und Tamazight - der Sprache der Berber,
die von knapp einem Viertel der 29 Millionen Algerier gesprochen und in
lateinischer Schrift geschrieben wird - hätte eine zügige Alphabetisierung der
Bevölkerung bewirken können. Heute noch liegt die Analphabetenrate bei Männern
bei ca. 30 Prozent. Bei Frauen ist sie annähernd doppelt so hoch. Statt dessen
erklärte der FLN nach seiner Machtübernahme ein künstliches Arabisch, eine
Mischung aus erstarrtem Koran-Arabisch und modernen Neologismen, zur einzigen
offiziellen Sprache. Dieses Arabisch ist, um den politischen Spagat dieses
Erlasses zu verdeutlichen, vom gesprochenen Umgangsarabisch so weit entfernt
wie das Lateinische vom Französischen.
Die
Entscheidung des FLN, dem größten Teil der Bevölkerung eine Fremdsprache
aufzuzwingen, hatte für die weitere Entwicklung in Algerien weitreichende
Folgen. Der Arabisch-Unterricht an Schulen mußte ehemaligen Koranlehrern
überlassen werden, da nur sie Hocharabisch sprechen und vermitteln konnten. Mit
der Sprache transportierten sie aber gleichzeitig ein äußerst konservatives
Kultur- und Wertesystem. Da die Schüler an den Schulen gleichzeitig Französisch
lernten und Hocharabisch weder eine technische Ausbildung erlaubte noch eine
Umgangssprache war, sprachen die Schüler weiterhin französisch. Der FLN
antwortete mit der Einrichtung sogenannter »monolingualer Klassen«, in denen
der Unterricht gänzlich auf Arabisch abgehalten wurde. Diese Entscheidung
wiederum hatte Auswirkungen auf die Hochschulen. Absolventinnen und Absolventen
monolingualer Klassen konnten nicht an den naturwissenschaftlichen Fakultäten
studieren. Der Staat förderte daraufhin die Errichtung islamischer Institute
für das naturwissenschaftliche Studium und die Schaffung von »arabisierten
Bereichen« für die Gesellschaftswissenschaften.
Mit
seiner Förderung des Hocharabisch und seiner Distanzierung von der
Kommunistischen Partei Algeriens - die KPA war offiziell verboten, ihre
Nachfolgerin PAGS wurde vom FLN geduldet und für Regierungsprojekte
instrumentalisiert - hat der FLN, und zwar auch die sozialistischen Teile der
Partei, die heutige Situation mitzuverantworten. »Le FIS est le Fils du FLN«
(Der FIS ist der Sohn der FLN), lautet ein algerisches Wortspiel. Damit ist
nicht gemeint, daß der Islamismus den algerischen Nationalismus einfach nur
perpetuiert. Vielmehr entwickelte sich der Islamismus in Algerien »immer
parallel und in Konkurrenz zum Nationalismus. Manchmal stand der Islamismus in
Gegnerschaft zum Nationalismus, manchmal, wenn dieser hegemonial war, paßte er
sich dem Nationalismus an. Der Islamismus war historisch betrachtet jedoch nie
prä- oder postnationalistisch«, faßt der an der Universität in Algier
arbeitende Wissenschaftler Ali EI-Kenz prägnant zusammen.
Durch
die spezifische Form des französischen Kolonialismus in Algerien bildeten sich
zwei Pole des Widerstands heraus. Der eine war in erster Linie kulturalistisch
orientiert und wurde von Teilen der Gesellschaft getragen, die von der Kolonialmacht
rassistisch diskriminiert wurden. Aus ihnen ging ein großer Teil der »Ulemas«,
der religiösen Gelehrten, hervor. Der zweite war mit sozialen Gruppen
verbunden, die in einem höheren Maße von der französischen Gesellschaft
integriert worden waren. Dazu zählten große Teile der städtischen Bevölkerung
und die organisierte Arbeiterschaft. Während die kulturalistisch orientierte
Opposition ihre Widerstandskultur in Abgrenzung von der Kolonialmacht bestimmte
und der Arabisierung der algerischen Gesellschaft eine zentrale Rolle zuwies,
wurde der Widerstand von den sozialistisch oder westlich-demokratisch
orientierten Gruppen unter positivem Bezug auf Frankreich definiert. Sie
sprachen französisch und waren an Auseinandersetzungen mit der Arbeiter-schaft
im Westen interessiert. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich zwei Eliten,
die auch schlicht sprachlich nicht mehr miteinander kommunizieren konnten. Der
Staat hatte in den ersten Jahren der Unabhängigkeit versucht, sich über ein
doppeltes Engagement zu legitimieren: über die ökonomische und soziale
Entwicklung des Landes und über die Wiederaneignung des »kulturellen Erbes«.
Daraus ergab sich von Anfang an eine Aufgabenteilung, in der die westlich
ausgerichteten Eliten den ökonomischen Bereich und die kulturalistisch-islamistisch
ausgerichteten Eliten den gesamten Bildungsbereich übernahmen.
Ökonomische
Krise und patriarchales Rollback
Ende
der 70er Jahre geriet mit dem wirtschaftlichen Entwicklungsmodell auch die
Regulationsform und die politische Machtstruktur Algeriens zusehends in die
Krise. Die wirtschaftliche Entwicklung war von einer hohen Inflationsrate, dem
Mangel an Konsumgütern, von Wohnungsnot, Defiziten in der Infrastruktur und im
Transportwesen sowie einem rapiden Ansteigen der (Jugend-) Arbeitslosigkeit
gekennzeichnet. Der schnelle Ausbau der Erdöl- und Erdgasindustrie verschlang
ein immenses Investitionsvolumen für Forschung, den Bau von Untersee-Pipelines
nach Westeuropa, Tankschiffe, Verflüssigungsanlagen und Ausbildung von
Fachkräften. Dadurch stieg die Auslandsverschuldung rapide an. Die Krise
verschärfte sich noch dadurch, daß die hochmodernen Industrieanlagen mit
erheblich geringerer Produktivität arbeiteten als erwartet. Die Produktion auf
Weltmarktniveau war nicht nur technologieintensiv, sondern benötigte auch wenig
Arbeitsplätze. Die Erwerbsquote lag in den 70er und 80er Jahren bei 20 Prozent.
Massive
Armut prägte die materielle Situation großer Teile der Bevölkerung in den
Städten. Trotz einer relativen Absicherung durch Mindestlöhne, subventionierte
Grundnahrungsmittel und Krankenversorgung konnte die Lage bis Mitte der 80er
Jahre nicht verbessert werden. Die traditionelle Alternative der Auswanderung
nach Frankreich stand den Menschen seit dem Einwanderungsverbot Frankreichs 1973
nicht mehr offen. Die mangelnde Umsetzung der Agrarreform führte zu einer
weiteren Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte. Dort kam es seit
Mitte der 70er Jahre regelmäßig zu wilden Streiks, in deren Verlauf nicht nur
für Lohnerhöhungen, sondern auch gegen die Politik der Regierung und ungleiche
Verteilungsstrukturen gekämpft wurde.
Nach
dem Verfall der Erdölpreise zeichnete sich Mitte der 80er Jahre eine weitere
Zuspitzung der Verhältnisse ab. Organisierte sozialistische und demokratische
Kräfte, aber auch die Frauenbewegung gewannen in dieser Zeit an Bedeutung und
konkurrierten um die Führung der zahlreichen sozialen Bewegungen in den
Fabriken, Universitäten und Stadtteilen. In dieser Situation wurden die Frauen
endgültig vom Arbeitsmarkt gedrängt. Der Versuch der »Algerischen Nationalen
Frauenunion«, mit der Regierung ein Abkommen über die Förderung und Erhaltung
von Frauenarbeitsplätzen zu schließen, schlug fehl. Der Ausschluß von Frauen
vom Arbeitsmarkt wurde ideologisch gerechtfertigt. In der 1986 vom FLN
verabschiedeten Nationalcharta wurde der Beitrag der Frau zu den »produktiven
Tätigkeiten« der Gesellschaft in die Familie verlegt. Darüber hinaus wurde
festgeschrieben, daß »die Ehefrau ihrem Ehemann gehorchen und ihm jede Ehrerbietung
erweisen muß, die ihm in seiner Qualität als Chef der Familie zukommt«. Diese
Formulierung stellte bereits einen Kompromiß dar. Erst durch massive Proteste
von Frauengruppen wurde der Gesetzentwurf von 1981 gekippt, in welchem noch die
Rede von einer »ständigen Vormundschaft« des Mannes über die Frau war. Der
algerischen Frauenbewegung war es nur unzureichend gelungen, dem patriarchalen
Rollback entgegenzuwirken und die in der Zeit des Unabhängigkeitskrieges
erreichten Rechte der Kämpferinnen und Versorgerinnen der Familien zu
verteidigen.
Im
Oktober 1988 kam es zur sozialen Explosion, allerdings in ganz anderer Form als
erwartet. Es waren nicht die Arbeiter von CVI (Complexe Véhicules Industriels),
einem Großunternehmen mit 12.000 Beschäftigten, um die sich die
Oppositionsparteien und -gruppen in den letzten beiden Jahren bemüht hatten. Es
waren auch nicht die Arbeiter der Stahlwerke von EI Hadjar, sondern in erster
Linie Erwerbs-lose, Jugendliche und Anhänger des politischen Islam aus den
Vorstädten. Die sogenannten Griesmehl-Unruhen richteten sich insbesondere gegen
die hohen Lebensmittelpreise, Wohnungsnot und Arbeitslosig-keit. Dabei wurden
Partei- und Regierungsgebäude des FLN angegriffen, Luxushotels in Brand
gesteckt und Geschäftszentren zerstört. Der Staat reagierte auf diese Unruhen
mit einer Welle der Repression.
Postfordistische
Umbrüche
Der
Oktober 1988 markierte das Scheitern des fordistischen Entwicklungsmodells
nicht nur in ökonomischer, sondern auch in regulativer Hinsicht. Der staatliche
Machtapparat war viel zu unflexibel, um auf die Anforderungen des sich
verändernden Weltmarktes reagieren zu können. Darüber hinaus hatte es Algerien
zu fordistischen Zeiten nicht geschafft, auf dem Weltmarkt eigene Nischen zu
besetzen, wie dies beispielsweise Kuba in den Bereichen Mikroelektronik und
Biotechnologie ansatzweise gelungen war. Im Verlauf der neunziger Jahre wurden
auf Druck des IWF die staatsbürokratischen Strukturen durch Deregulierungs- und
Privatisierungsstrategien aufgebrochen. Diese Entwicklung ging einher mit einer
Abnahme des Einflusses sozialistischer und demokratischer Gruppierungen.
Innerhalb kürzester Zeit übernahmen islamische Gruppen die politische Führung
in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig fand eine
Transformation des algerischen Staates statt. Der FLN forcierte eine
Entwicklung vom algerischen Einparteiensystem hin zu einem formalen
Mehrparteiensystem. Binnen weniger Monate wurde eine Verfassung ausgearbeitet,
der 73 Prozent der Wahlberechtigten in einem Referendum im Februar 1989
zustimmten. Algerien wurde verfassungsmäßig zu einer »demokratischen
Volksrepublik« mit bürgerlichen Grundrechten. Das Wort »sozialistisch« kam im
neuen Verfassungstext nicht mehr vor.
Diese
Entwicklungen führten zu einem Kräftemessen zwischen islamischen Gruppen, allen
voran des EIS (Front Islamique du Salut) und der Staatsmacht. Der EIS konnte in
der Folge den ersten Durchgang der Parlamentswahlen vom 26. Dezember 1991 mit
großer Mehrheit für sich entscheiden. Daraufhin wurde der zweite Wahlgang
ausgesetzt, am 11. Januar 1992 putschte das Militär. Der damalige
Staatspräsident Chadli Bendjedid wurde zum Rücktritt gezwungen, das Parlament
aufgelöst und die Wahl annulliert. Das »Haut Comité d'Etat« (das Hohe
Staatskomitee) übernahm die Regierung und verbot am 4. März 1992 den FIS.
Islamismus
als dominante Regulationsform
Die
Zuspitzung der sozialen Auseinandersetzungen in Algerien ist einerseits das
Ergebnis der ökonomischen Umstrukturierung des Weltmarktes und des Zusammenbruchs
fordistischer Formen der Akkumulation. Sie ist andererseits das Ergebnis einer
gesellschaftlichen Regulation, die dem Islamismus seit Entstehen des
algerischen Staates eine zentrale Rolle zuschrieb. Bis in die achtziger Jahre
gelang es den ökonomischen Eliten, große Teile der algerischen Gesellschaft
über Staatswirtschaft, Mindestlöhne, subventionierte Grundnahrungsmittel und
Krankenversorgung in den Staat zu integrieren. Das Jahr 1988 markiert in dieser
Entwicklung einen Wendepunkt. Die auf Druck des IWF eingeleitete
Privatisierungs- und Deregulierungspolitik des FLN bewirkte zwar durch die
verstärkten Möglichkeiten der Gewinnabschöpfung eine erhöhte
Investitionsbereitschaft westlicher, insbesondere französischer Firmen. Davon
profitierte jedoch lediglich ein kleiner Teil der algerischen Bevölkerung. Für
den Großteil der Bevölkerung bedeutete diese Politik eine weitere
Verschlechterung ihrer Lebenssituation. Diese Entwicklung entzog der Regierung
ihre politische Legitimation, die sie bis dahin zum großen Teil aus der
Absicherung der materiellen Lebensbedingungen gezogen hatte.
Die
islamistischen Gruppierungen und Parteien ersetzten mit ihren Wohlfahrtsküchen
in dem Maße die sozialdemokratischen Abfederungsmechanismen, in dem diese von
der Regierung abgebaut wurden. Die Islamisten hatten sich im Lauf der achtziger
Jahre vor allem über ihre soziale Arbeit auf kommunaler Ebene in weiten Teilen
der Gesellschaft verankert. In den neunziger Jahren hat sich der Islamismus als
dominante Regulationsform schließlich durchgesetzt.
Die spezifische Verknüpfung der islamistisch und westlich
orientierten Eliten wird in den hiesigen Medien häufig auf einen einfachen
Dualismus Islamisten versus Militär reduziert. Diese Verkürzung ist in
zweierlei Hinsicht falsch: Zum einen besteht die antifundamentalistische
Opposition in Algerien nicht nur aus Teilen des Militärapparates, sondern auch
aus großen Teilen der im algerischen Gewerkschaftsbund organisierten
Arbeiterschaft, der Frauenbewegung, einem Großteil der Bevölkerung in der
Kabylei und sozialistischen und demokratischen Gruppierungen. Weite Teile
dieser antifundamentalistischen Opposition sind gleichzeitig Kritiker des
Regimes. Zum anderen nutzt das Militär, das sich gegenwärtig mit Hilfe seiner
Privatisierungsstrategie in eine Klasse von Privatbesitzern transformiert, die
Gewalttaten der Islamisten, um die regimekritische, demokratische Opposition
auszuschalten. Das verordnete Arabisierungsgesetz ist ein eindeutiges
Bündnisangebot an die Islamisten auf Kosten großer Teile der
antifundamentalistischen Opposition.