Von Frank Frei (gruppe demontage)
Karfreitag kam in Nordirland nach einem
mehrjährigen Verhandlungsprozeß unter Beteiligung der meisten nordirischen
Parteien und der irischen und britischen Regierungen ein Friedensabkommen
zustande. Wahrscheinlich wird das Abkommen am 22. Mai in einer Volksabstimmung
in Nordirland angenommen werden. Gleichzeitig wird in der Republik Irland ein
Referendum über die Aufgabe des Gebietsanspruches auf Nordirland abgehalten.
Das Friedensabkommen sieht u.a. die Bildung eines Regionalparlamentes in
Nordirland und die Schaffung eines gesamtirischen Ministerrates vor. In dem
Regionalparlament sollen alle Parteien gemäß ihres Stimmenanteils an der
Regierung beteiligt werden. Der gesamtirische Rat dient dem Austausch und der
Kooperation in Fragen der Landwirtschaft, des Umweltschutzes und des Tourismus.
Die paramilitärischen Gruppierungen sollen gemäß dem Vertrag bis zum Sommer
2000 abrüsten. Dann sollen, solange die jeweiligen Waffenstillstände halten,
auch deren letzte Gefangene freikommen.
Ob
es einen oder zwei irische Staaten gibt, wäre nicht weiter wichtig, wenn der
nordirische Staat nicht auf einer systematischen sozialen und politischen
Diskriminierung der irisch-katholischen Minderheit basieren würde. Die in dem
Abkommen vorgesehene Verstärkung des Grundrechteschutzes und der Aufbau einer
Gleichstellungskommission benennt keine konkreten Ziele und hängt nicht von
gesamtirischen Institutionen ab. Die Gleichstellung soll vielmehr von den neuen
nordirischen Institutionen umgesetzt werden, die von den probritischen
unionistischen Parteien dominiert werden. Auch lehnt die Hälfte der
unionistischen Parteienvertreter das Abkommen grundsätzlich ab und wird dessen
Umsetzung mehr oder weniger direkt boykottieren. Solange die unionistische
Bevölkerungsmehrheit somit ihre Vormachtstellung nicht aufgeben muß, wird es,
zukünftige Gleichstellungsgesetze hin oder her, weiter Diskriminierung geben.
Unmittelbar
stellt sich das Problem, daß die Irisch Republikanische Armee (IRA) nach dem
Abkommen verlauten ließ, nicht abrüsten zu wollen. Die unionistische Führung
knüpft jedoch eine Zusammenarbeit mit Sinn Féin im nordirischen Parlament und
die Freilassung der IRA-Gefangenen an die Entwaffnung der IRA und die Fortdauer
ihres Waffenstillstandes. Die Freilassung der paramilitärischen Gefangenen
bleibt so von der weiteren politischen Entwicklung abhängig. Es ist auch nicht
zu erwarten, daß die nordirische Polizei aufgelöst wird oder die britische
Armee aus Nordirland abzieht. Eine Kommission zur Polizeireform wird vom
ehemaligen konservativen Gouverneur der britischen Kolonie Hong Kong geleitet
werden. Die unionistischen Parteien haben klar gemacht, keine Neuorganisation
„ihrer“ Polizei hinzunehmen. Da kleinere paramilitärische Gruppen weiterhin
militant agieren und die IRA sich, was die technischen Voraussetzungen
betrifft, diese Option offen gehalten hat, wird auch die britische Armee
weiterhin präsent und die Anti-Terrorismusgesetze in kraft bleiben. Das bedeutet,
daß wie bisher insbesondere das katholische Proletariat alltäglicher Repression
durch die Sicherheitskräfte und diejenigen probritischen Paramilitärs
ausgesetzt ist, die das Friedensabkommen ablehnen. Auch insofern wird die
nordirische Frage nicht gelöst, sondern werden die strukturellen Probleme nur
verschoben.
Die
IRA und die Partei Sinn Féin haben dem Abkommen als die maßgeblichen
Organisationen der antikolonialen, irisch-republikanischen Bewegung zugestimmt.
In der zukünftigen nordirischen Regierung wird Sinn Féin deshalb wahrscheinlich
zwei der zwölf Minister stellen, um so auf die gesamtirischen Institutionen
Einfluß zu nehmen und sich für eine Wiedervereinigung einzusetzen. Mit diesem
Schritt erkennen Sinn Féin/IRA, entgegen ihrer bisherigen Politik, faktisch den
nordirischen Staat und das Veto der unionistischer Mehrheit über die weitere
politische Entwicklung an. Denn zu einer Wiedervereinigung soll es in Zukunft
nur kommen, wenn sich dafür in Nordirland, nicht jedoch wie bisher von Sinn Féin
gefordert, in ganz Irland eine Mehrheit findet. Auch Entscheidungen im
gesamtirischen Ministerrat werden von der Zustimmung der Unionisten abhängen.
Es ist deshalb höchst zweifelhaft, daß, wie Sinn Féin meint, durch das Abkommen
eine Dynamik entsteht, die in einer Entkolonialisierung Nordirlands mündet.
Vielmehr wird Sinn Féin durch eine Mitwirkung an den nordirischen Institutionen
ins herrschende System kooptiert.
Diese
Entwicklung zeichnete sich schon länger ab. Sinn Féin/IRA haben sich 1970 von
einer mehrheitlich auf einen innernordirischen Ausgleich bedachten
republikanischen Bewegung abgespalten, um die katholischen Viertel in
Nordirland gegen Pogrome zu verteidigen und um die britischen Kolonialherren
militant zu bekämpfen. Ab Ende der 70er Jahre sicherte sich die republikanische
Guerrilla die längerfristige Verankerung in den katholischen Arbeitervierteln
durch die Aufnahme sozialistischer Politikelemente. Anfang der 90er Jahre
schwenkten IRA/Sinn Féin jedoch auf ein Bündnis mit der Partei der katholischen
Mittelklasse in Nordirland, der SDLP, und der bürgerlichen Regierung in
Südirland um. Nachdem der bewaffnete Kampf und der Aufstieg Sinn Féins zur
Wahlpartei die Wiedervereinigung nicht zu erreichen vermochten, versucht Sinn
Féin nun ausschließlich auf parlamentarischer Ebene, die SDLP in der Gunst der
nordirischen Katholiken zu überholen.
Die
republikanische Bewegung knüpfte ihre Sozialismusvorstellungen an die
Regulationsmöglichkeiten eines fordistischen Staates. Als nationale
Befreiungsbewegung sieht sie sich als legitime Vertreterin des irischen
„Volkes“, weswegen ihr der gegenwärtige Übergang in die konstitutionelle
Politik nicht ganz fern liegt. Dieser Staatsreformismus paßte in der
Vergangenheit zum fordistischen Sozialismusverständnis. Unter postfordistischen
Bedingungen hat die Sinn Féin Führung jedoch zuletzt auch die Ansiedlung
multinationaler Konzerne in Irland unterstützt, was sie früher ablehnte. In
bezug auf das Friedensabkommen heißt dies, daß sich die Vorstellungen der SDLP
durchgesetzt haben. Diese will Nord- und Südirland zukünftig als Euroregion
miteinander verbinden. Durch eine ungehindertere Kapitalakkumulation könnte
Nordirland gegebenenfalls an den postfordistischen Boom in der Republik Irland
anschließen. Solange die unionistische Bevölkerung dafür ihren Suprematismus
nicht aufgeben muß, wird sich ein größerer Teil von ihr mit einer solchen
Vorstellung anfreunden.
Infolge
der Umorientierung von IRA/Sinn Féin haben sich einige Gruppen abgespalten, die
den militanten Kampf gegen den nordirischen Staat fortsetzen. Im Gegensatz zur
republikanischen Bewegung in der ersten Hälfte der 80er Jahre besitzen diese
jedoch weder eine sozialistische Praxis noch eine Strategie, wie die
Fortführung des bewaffneten Kampfes die unionistische Vorherrschaft brechen
könnte. Wenn schon eine relativ starke und geeinte IRA dies nicht vermochte,
ist dies heute einer zersplitterten republikanischen Bewegung erst recht nicht
möglich. Insofern ist das Kalkül der britischen Regierung aufgegangen, einen größeren
Teil der republikanischen Bewegung zu integrieren, um den Rest militärisch zu
zerschlagen oder zumindest noch besser kontrollieren zu können.
Die
unabhängige Republikanerin Bernadette McAliskey hat der republikanischen
Führung im Februar 1996 als Gegenstrategie vorgeschlagen, den bewaffneten Kampf
öffentlich für beendet zu erklären und ein antiimperialistisches Bündnis
aufzubauen, das alle antikolonialen und sozialistischen Kräfte auf der Insel
umfaßt, um so der durch die Friedensverhandlungen legitimierten unionistischen
Vorherrschaft offensiv entgegentreten zu können. IRA/Sinn Féin lehnten
erwartungsgemäß dieses Einheitsfrontkonzept von unten ab und blieben bei ihrem
Volksfrontbündnis mit der katholischen Mittelklasse. Nur eine Zusammenführung der
sozialistischen und anti-kolonialen Kräfte könnte jedoch längerfristig das
entlang konfessioneller Linien gespaltene Proletariat einen, anstatt durch
konstitutionelle Proporzpolitik dessen Spaltung zu perpetuieren. Wie sagte doch
Sinn Féin Präsident Gerry Adams während der Friedensverhandlungen, „bleibt die koloniale Frage ungelöst, wird
eine weitere Generation in den bewaffneten Kampf gezwungen.“